Rio de Janeiro (Tag 6) – In eine andere Welt…

Auf Empfehlung zweier Backpacker aus meinem Hostel hatte ich für den heutigen Nachmittag eine geführte Tour in die größte Favela Rios gebucht. Am Vormittag ging ich in den “Jardim Botânico” (Botanischer Garten), der ganz nett anzuschauen war, jedoch mit Sicherheit kein Highlight Rios ist.

Gegen 14:00 Uhr wurde ich dann am Hostel abgeholt und ganz nach brasilianischer Methode mussten wir spontan noch eine andere Gruppe Backpacker für die Tour abholen. Zu acht ins Auto gequetscht kurvten wir dafür quer durch die Stadt. Irgendwann erreichten wir aber Rocinha, wie gesagt Rios größte Favela mit rund 127.000 Einwohnern. Mit Moto-Taxis (= Motorräder) ging es in einem Höllentempo und Hara-Kiri-Fahrweise natürlich ohne Helm (deutsche Sicherheitsstandards adé) den Hang hinauf, von wo wir zu Fuß mitten durch die Favela geführt wurden.

Zu Beginn wurde uns ein wenig etwas über das Wesen der Favelas erzählt, von denen es allein hier in Rio rund 700 geben soll. Sie sind ursprünglich illegal gegründete Siedlungen, in denen oft die ehemaligen Sklaven, deren Nachfahren und eben die sozial schwache Schicht eine Bleibe gefunden haben. Die Einwohner zahlen in der Regel keine Steuern und versorgen sich durch Anzapfen der Leitungen kostenlos mit Wasser und Strom. “Regiert” werden die Favelas üblicher Weise von Drogenbaronen, die Geld wie Heu mit illegalen Geschäften machen. Im Fall von Rocinha wurde uns erzählt, dass deren Anführer 24 Jahre alt sei und rund 400.000 R$ pro Monat verdiene. Wie genau diese Angaben sind kann ich nicht nachvollziehen, zumal den beiden Schotten aus meinem Hostel am Tag zuvor geringfürgig andere Daten genannt wurden. So genau muss man es aber auch nicht wissen um geschockt zu sein…

Polizei hat über die Favela in der Regel keine oder nur sehr geringfügige Kontrolle oder ist bei dem sehr niedrigen Gehalt von ca. 800 R$ pro Monat (als Trainee verdiene ich hier 1000 R$) so korrupt, dass sie quasi mit den Drogenbossen zusammenarbeitet. Innerhalb der Favela gibt es strikte Regeln und einen Verhaltenskodex. So wird innerhalb der Siedlung zum Beispiel nichts gestohlen oder es darf nicht mit der Polizei gesprochen werden. Passiert etwas unvorhergesehenes werden die Bewohner durch festgelegte Zeichen (Feuerwerk oder das Steigen lassen von Drachen) darüber informiert.

Die Organisation, die diese Tour anbietet, beteiligt sich an Projekten, mit denen die Favelas in das normale Leben der Stadt integriert und die von ihnen ausgehende Kriminalität eingedämmt werden soll. Das Geld für die Touren wird so zum Beispiel in Schulen und medizinische Versorgungszentren innerhalb der Favelas investiert. Außerdem vermittelt die Tour selbst Außenstehenden natürlich einen sehr guten Eindruck vom Leben der Menschen dort und von den Problemen, die von diesen Siedlungen ausgehen.

Zunächst bekamen wir einen Überblick über die gesamte Favela von einer Dachterrasse eines der Häuser. Es war schon unglaublich diese riesige Slum-Siedlung von oben zu sehen, die sich zwischen den beiden Berghängen drängte (siehe Fotos). Und man kann wirklich von Drängen sprechen, denn links und rechts war praktisch kein Platz mehr. Aus diesem Grund haben sich die Leute inzwischen auch etwas neues für neue Häuser einfallen lassen: Die Besitzer von Häusern verkaufen einfach ihre Dächer, auf denen dann das nächste Haus errichtet wird und so weiter… Die Favela wächst jedenfalls trotz Platzmangel weiter und weiter und muss es ja auch, denn im Durchschnitt hat eine Familie 7 Kinder wie uns erklärt wurde und diese beginnen bereits zwischen 12 und 15 selbst wieder Kinder zu haben. A propos Kinder: Uns wurde gesagt, dass diese sehr gerne in die Schule gehen, da sie aus ihrem Leben etwas machen wollen. Im nächsten Satz hieß es dann aber, dass dieses “etwas aus ihrem Leben zu machen” darin bestehe, möglichst viel Geld zu verdienen. Und da sie aus ihrem Umfeld dafür zwei Möglichkeiten kennen, wollen sie später entweder Profi-Fußballer oder Drogendealer werden.

Generell besteht zwischen den Favelas und der restlichen Stadt eine Art Symbiose: In Brasilien ist es Gesetz, dass eine Firma ihren Angestellten den Weg zur Arbeit bezahlen muss – egal wie lang dieser ist und welche und wieviele Transportmittel benutzt werden müssen. Da die Favelas praktisch gleich “nebenan” vom Zentrum sind, haben die Bewohner dort einen gewissen “Bonus”, da sie aufgrund der Nähe günstiger sind als Bewohner aus den weit entfernten Vororten der Stadt. Das ist nur ein weiteres Beispiel, wie kompliziert die Existenz der Favelas und ihre ganze Problematik in den Alltag Rio de Janeiros verflochten ist. Diesen “Teufelskreis” zu durchbrechen scheint jedenfalls sehr schwer bis unmöglich zu sein…

Nach dieser Einführung und den Überblick über die Favela machten wir uns auf den Weg mitten durch. Auf sehr engen “Straßen” (sofern man sie überhaupt so nennen kann – siehe Fotos) ging es bergab. Zwischendurch trafen wir immer wieder auf sehr freundlich grüßende Bewohner und vor allem die Kinder ließen sich sehr gerne fotografieren, da sie dann glaubten, berühmt zu sein. Unterwegs legten wir einen kurzen Stopp in einem kleinen Geschäft ein, um etwas zu essen und zu trinken. Der Bananenkuchen, der als besondere lokale Spezialität angeboten wurde, war ziemlich gut!

Dann ging es weiter bergab. Je näher wir dem Fuß der Favela kamen, desto dreckiger wurden die Straßen und desto mehr Müll lag herum. Letzterer wird angeblich nie eingesammelt, sondern verrottet einfach dort wo er hingeworfen wird. Wenn man so etwas erzählt bekommt, während man bei jedem Schritt aufpasst, wo man hintritt, gibt einem das schon sehr zu denken…

Schließlich kamen wir durch eine sehr enge Gasse, die als die “Linha da Morte” (oder so ähnlich) bezeichnet wird. Kommt ein ungebetener Gast (z.B. auch die Polizei) in die Favela und macht Ärger, so warten die Mafia-Handlanger, bis er sich in dieser Gasse befindet, die außer ihrem Anfang und Ende keinen weiteren Ausgang hat. Dort legen sie den “Gast” dann einfach um. Uns wurde das so erzählt, als sei das hier an der Tagesordnung. Unsere Führerin meinte nur, es sei eine häufig aufkommende Frage, wieviele Personen in dieser Gasse schon ihr Leben gelassen haben. Eine Antwort gäbe es darauf aber nicht.

Schließlich erreichten wir das Ende der Favela am Fuße des Berges und waren nach einer bereiteren von Ständen gesäumten Straße wieder in der “Zivilisation” angekommen. Ich musste mir regelrecht ins Bewusstsein rufen, dass die vergangenen Stunden kein Film gewesen waren und die Leute dort Tag für Tag tatsächlich leben! Ich kann nur sagen, diese Führung war eines der Highlights meines Rio-Aufenthalts und hat mir einen bleibenden Eindruck von den Problemen der brasilianischen Metropolen vermittelt. Die eventuell aufkommende Frage, ob ich mich nicht “schlecht” dabei gefühlt habe, als “wohlhabender” Tourist durch diese Elends-Siedlung zu laufen, kann ich nur verneinen. Erstens sahen die Menschen dort nicht wirklich dreckig oder versifft aus, sondern wirkten mit ihrem Leben soweit zufrieden. Zweitens investiert die Organisation, die diese Tour anbietet das Geld zum Teil ja in Hilfsprojekte, die den Problemen mit den Favelas entgegen gehen sollen. Und schließlich kann man selbst für sich persönlich nur dann einen tatsächlichen Eindruck von der Lage bekommen wenn man selbst dort gewesen ist. Ich kann es jedenfalls nur jedem empfehlen so etwas zu machen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Für mich war es eine große Erfahrung!

Nach der Tour wurde ich am Hostel abgeliefert und am Abend traf ich mich endlich noch mit ein paar AIESECern in einer Bar. Allerdings machte sich meine Erkältung wieder deutlich bemerktbar, so dass ich nicht allzu lange dort blieb und bereits gegen Mitternacht zum Hostel zurückkehrte.